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Der Hollandgänger

Von G. Köhne, Lingen.

Schnurgerade zieht sich die alte Heerstraße westwärts der Ems durch die Lohner Heide. Schlanke Birken mit weißglänzender Rinde und frischem Blättergrün stehen zu beiden Seiten in endlosen Reihen. Ringsum einsame Heidefläche, die am fernen Horizont mit den Wolken verschwimmen.
Jenseits der Ems ist der Frühling schon mit roten, gelben und blauen Blumen ins Land gezogen. Doch die weite Heide schläft noch. Vergebens klagt die kleine Heidelerche jeden Morgen und Abend. Doch die Heide bleibt still und stumm.
Aber durch die Einsamkeit wandern um diese Zeit täglcih Tausende von Männern. Ihr Weg geht gen Westen nach den Niederlanden. Im letzten Winter sind sie zur Arbeit im fremden Lande angeworben. Auf Wochen und Monate verlassen sie nun die heimatliche Hütte im Tecklenburger=, Lingener= oder Oldenburger=Lande.
Schweigsam ziehen die Männer der Arbeit. Im Rucksack tragen sie Speck und Mehl, auf der Schulter Sense und Spaten. Das dampfende Pfeiflein im Munde und die "Schluckflasche" im blauen Leinenkittel, so schreiten sie rüstig vorwärts. Das junge Birkengrün flüsterts von Baum zu Baum: Die Hollandsgänger. - Aber die Not, die Sorge wandert mit hinterdrein - schleicht mit über die Grenze. Die heimatliche Scholle bringt nicht auf, was zum Leben nötig ist. Der bittere Ernst treibt die Männer des Emslandes hinaus. Heuerleute sind es, die aus Holland sich die Haus= und Landmiete holen zur Zahlung ihrer Bauern. Kötter wollen dort die Zinsen zusammenbringen für ihre Schulden. Selbst Bauernsöhne und Bauernknechte schließen sich an, um im fremden Lande ihre Aussteuer zu vermehren. Was Wunder, wenn um 1850 mehr als 25 000 Hollandsgänger alljährlich die Emsbrücke bei Lingen überschritten!
Doch viele kehren nicht wieder in die Heimat zurück. Sie sterben an den kalten Fiebern des Moores. Mehr noch kommen krank und siech zurück. Wie könnte es anders sein! Der erste Strahl des Morgens sieht die Männer im Moore beim Stechen des Torfes, die scheidende Abendsonne erblickt sie noch über dem Spaten gebückt. Ein dürftiges Lager aus Heu und Torfmull unter elendem Dach ist das Bett für wenige nächtliche Ruhestunden. So dauert Tag um Tag die Arbeit an, bis jenseits der Grenze das Korn zur Ernte reif steht. Dann ziehen "die Ritter der Arbeit" in die Heimat zurück, um auf eigener Scholle zu wirtschaften. Die Kinder in den Straßen und Dörfern rufen dann freudig von Haus zu Haus: Die Holländer kommen, die Holländer!
Es war im Hochsommer des Jahres 1829. Der alte Hollandsgänger Herm Diekjan steckte die sauer erworbenen Gulden in die Tasche und warf Spaten und Sense über die Schulter. Noch einmal schweifte sein Blick über die schaurigen Moore, und ein leises Lächeln flog über sein Gesicht. Dreißig Jahre hat er sich nun die Pacht für Haus und Hof in Holland erworben. Das waren harte Jahre, wenn der Baas für die Rute nur 12 Stüwer (96 Pfg.) zahlte. Dann war daheim die Freude nicht groß, wenn er nur 80 Gulden mit heimbrachte. Wie würden sie aber heute lachen, wenn er 100 blanke Gulden, 170 Mk., auf den Tisch legen konnte!
Fünf Kinder hat der Herm durch seiner Hände Arbeit groß gezogen. Das ganze Leben war ihm Arbeit gewesen, und er hat es schön gefunden. Im nächsten Frühling sollte sein Aeltester hinausziehen, dann sah er bald ruhigere Zeiten kommen.
Knapp Gerd gesellte sich ihm zu, und beide traten den Heimweg an. Sonnverbrannt, gebeugt von der harten Arbeit schritten sie durch die unendliche Einsamkeit. Nichts regte sich. Drückende Hitze lag über Moor und Heide. Diekjans Herm wischte sich mit der alten rissigen Faust den Schweiß von der Stirn. Unbarmherzig brannte die Sonne.
"Kumm an, Herm, wi wilt us ers enen drinkn, ‚t is wat warm!" Sie kehrten in das niedrige Wirtshaus ein, und Gerd bestellte. Der Wirt brachte "de halben Orts," und immer wieder ließ Gerd die Gläser füllen und sorgte, daß Herm nie vor dem leeren Glase saß. Der Schnaps tat seine Wirkung. Gerd bezahlte die Zeche. Als die Dunkelheit über Heide und Moor herabsank, brachen beide auf, Gerd führte den Herm.
Doch da, wo die Heide so einsam ist, wo in später Abendstunde keine Menschenseele wandert, da zog Gerd sein Messer, um den Bewustlosen zu töten; da nahm Gerd die klingenden Gulden des Nächtens und verschwand in Nacht und Nebel.
In das kleine Heuerhaus jenseits der Ems trug man am andern Abend einen toten Hollandsgänger. In den Straßen des Dorfes sangen die Kinder nicht.
Unweit der Stadt Lingen liegt einsam zwischen Heide und Sand ein verwehtes Grab unter Kieselgestein. Die kleine Anhöhe - einst ein Richtstätte - heißt Galgenberg. Der Hollandsgänger Knapp Gerd fand hier seinen Tod. - Das alte Fährhlus am Ufer der Ems, an dem alljährlich Tausende von Hollandsgängern vorüberzogen, weiß von der Not und Sorge alter Tage manch Stücklein zu erzählen.